Weihnachten und ein stilles Wunder

Wunder…

…gibt es immer wieder, sang Katja Ebstein schon 1970 aber manche Wunder halten nur für den Moment. Sie leuchten in dem einen Augenblick, man möchte sie festhalten, aber da sind sie schon vergangen. Man denkt ein wenig wehmütig an sie, aber der  Zustand lässt sich nicht fest- und die Veränderung nicht aufhalten.

Unser Weihnachten 2021 schien wie einer dieser Sterne, die hell und hoffnungsvoll leuchten. Aber dieser Umstand war wohl nur die Supernova kurz vorm Erlöschen des Himmelskörpers. Das kann man jetzt bedauern. Oder man schaut auf  das was 2022 ist. Auf die Menschen, die mit einem sein möchten, auch wenn sich ihre Zahl verringert hat. Und vor allem: welchen Weg man mit diesen Menschen in dem vergangenen Jahr gegangen ist. Und dann erscheint einem dieses kleine stille Weihnachten plötzlich wieder ganz wundersam…

Das vergangene Jahr…

…hatte es in sich. Global, politisch, pandemisch…überall zeigten sich Krisen und Katastrophen. Und auch im Kleinen wurde der einzelne Mensch mit großen Herausforderungen konfrontiert. Sehr viele schien es diese Jahr zu beuteln, jeder Einzelne suchte nach einem Weg aus seinen persönlichen Widrigkeiten. Und manchmal musste man noch Hilfestellung für andere leisten…die Kinder, die Eltern, Freunde, die Trost brauchten…

Die Krankheit meiner Mutter ging ins fünfte Jahr und setzte nicht nur ihr, sondern vor allem auch meinem Vater zusehends zu. Meine Mutter oft verwirrt und ängstlich, in ihrem Radius eingeschränkt, mein Vater an ihre Betreuung gebunden und von ihrer proklamierten Hoffnungslosigkeit entkräftet. Bereits seit zwei Jahren war ich der festen Überzeugung, dass ein Umzug wieder in die Stadt der beste Weg raus aus ihrer ungewollten Isolation war. Näher an mir dran und mehr im Leben drin. Ihr Münchner Vorort war letztendlich zur Vorhölle geworden: eine ruhige Idylle mit fallenden Blättern ohne Anregung und Inspiration für meine einst so beweglichen Eltern.

Die Wohnung am Viktualienmarkt…

Im Juni entdeckte ich auf der Seite einer befreundeten Maklerin eine Wohnung mitten in der Stadt. Am Viktualienmarkt. Mehr München geht nicht. Mein Vater war Feuer und Flamme von der Idee, meine Mutter hingegen im absoluten Widerstand. Einst eine mutige und eigenständige Frau, durch die Krankheit jedoch bei jeglicher Veränderung von Angst und Zweifeln geplagt. Und dann kamen die Stimmen: du kannst doch alte Bäume nicht verpflanzen, was für eine verrückte Idee, mitten in die Stadt, lass deine Eltern doch wo sie sind, mit 81 und 83…

Wenn meine Eltern mir etwas gelehrt haben, dann dass es nie zu spät für Veränderungen und Entwicklungen ist. Also blieb ich hartnäckig dran. Sie unterschrieben an einem sonnigen Tag im Juli in ihrer zukünftigen Wohnung den Mietvertrag, schauten aus dem Fenster ungläubig auf das geschäftige Treiben, mein Vater war glücklich. Fünf Monate bis zum Umzug war meine Mutter jeden Tag der festen Überzeugung, dass sie es nicht schaffen wird. Mein Vater war am Ende.

Der Umzug…

…kam im November. Wir räumten über Tage die alte Wohnung, 20 Jahre ihr Zuhause, packten und versuchten Frohsinn zu verbreiten. Am Tag selber stand meine Mutter als letzte in der Wohnung. Alle waren schon mit den Umzugshelfern und Sack und Pack vorgefahren. Wir nahmen sie in unsere Arme und gingen mit ihr die Treppe hinunter. Ein letzter Blick und der Vorort war Vergangenheit.

In der Wohnung angekommen, verschwand meine Mutter in ihrem zukünftigen Zimmer. Sie saß dort, mit dem Mantel bekleidet, in einem Stuhl, völlig regungs- und orientierungslos. Sie schaffe es nicht, wiederholte sie ihr jahrelanges Mantra. Und ich dachte: du hast den größten Fehler deines Lebens gemacht. Wir fingen an zu räumen, einzurichten und ich versuchte, Optimismus zu verbreiten. Es kamen die kritischen Fragen: wohin das Klavier, den alten Schrank der Landshuter Schule…

Plötzlich kam meine Mutter um die Ecke. Und tat mit klarer Stimme ihre Meinung zu Klavier und Co. kund. Alle holten Luft. Ich kniff meinen Vater in den Arm und wir diskutierten mit ihr als hätten wir die letzten Jahre nichts anderes gemacht, als gemeinschaftlich Entscheidungen zu treffen. Von diesem Moment an begann die Veränderung.

Die Wandlung…

Meine Mutter fing wieder an selbstständig rauszugehen. Anfangs immer in meiner Begleitung, mit dem Rollator und kleinen Schritten, aber sie tat es. Mit zunehmender Begeisterung, denn wie sie feststellte, hatte der Viktualienmarkt nicht nur Gemüse und Obst, sondern vor allem viele attraktive Männer im Angebot. Nicht dass wir uns falsch verstehen: meine Eltern sind seit 57 Jahren glücklich verheiratet. Aber sie hatten zeitlebens einen Sinn für alles Schöne und Lebenswerte. Und dazu gehörten für meine Mutter auch die Betrachtung und Erfreuung an schönen Dingen.

Passierte uns auf unseren ersten Rundgängen ein adretter Mann, so tat sie dies lauthals kund. Was mir früher als Kind vor Scham die Röte ins Gesicht getrieben hatte, lies mich jetzt dankbar auflachen. Es zeigte mir, sie hatte noch nicht aufgegeben. Durch die kleinen Gassen schoben wir uns voran, meine Mutter so schien es, in schlichter Freude und Ergebenheit. Als ein junger Mann freundlich Platz machte und mir dabei ein charmantes Lächeln schenkte, rief sie mir von vorne zu: “Hat der dich etwas angelächelt?!” Ich rollte mit den Augen: “Ja Mutter.” Schnaufend schob sie den Rollator: “Der traut sich was. Wo doch die Mutter dabei ist.”

Oben in der Wohnung angekommen, trat sie mit ernster Miene auf Wolf zu und sagte: “Du darfst sie nicht alleine raus lassen. Sie schäkert mit jungen Männern an jeder Ecke.” Als ich gerade verblüfft zu meiner Verteidigung ausholen wollte, sah ich im Spiegel ihr verschmitztes Grinsen. So wie wenn die kleine Schwester die große Schwester nach den leidigen Begleitgängen daheim bei den Eltern in die Pfanne haut. Da war er wieder: der trockene Witz ihrer Herkunft, ganz ein Kind des Ruhrpotts mit seiner unverblümten Direktheit.

Läuft meine Mutter jetzt von Krücken und Ängsten befreit durch München? Nein, aber es zieht wieder Licht in ihre Seele ein. Und damit auch in unsere. Es entstehen wieder Perspektiven, selbst wenn der Radius nun ein viel kleinerer ist. Mein Vater ging jeden Tag entdeckend “ums Eck”, an der Isar entlang, durch den alten Südfriedhof, hin zum Deutschen Museum, nur um meine Mutter dann an irgendeinem Stand bei Weihnachtseinkäufen aufzugabeln.

Und als dann Weihnachten kam…

…saßen wir da zu fünft: meine Eltern, meine Tochter, Wolf und ich. Meine Mutter befand trocken, dass sie keine Lust aufs Klavierspiel hätte. “Jetzt gibts Bescherung!”, verkündetet sie zackig. Denn sie hatte ja schließlich eingekauft. Es gab Geld und Glücksschweine. Aus Terracotta, selbstgemacht von einer Töpferin vom Viktualienmarkt.

Schließlich aßen wir Tapas, tranken Wein, Milch und Bananensaft und machten mit allen Kameras, die uns zur Verfügung standen, Selfies. Wolf rannte zum Auslöser, wir setzten uns um, befanden, das Licht sei scheiße, befanden, dass auch alle Kuscheltiere mit aufs Bild sollten, mein Vater schaute grimmig wie immer, meine Mutter fand sich zu dick, ich hielt auch die Luft an und meine Tochter schnitt Grimassen. Wolf schaute als Weihnachtsüberraschung seitlich ins Bild und befand: “Jetzt´s passt´s.”

Weihnachten 2022, dein Wunder kam auf leisen Sohlen. Aber es kam. Und war gut zu uns.

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Comments 22
  1. Es war wunderschön zu lesen, was für ein schönes Weihnachtsfest ihr hattet.
    Ihr habt das soooo verdient, meine schöne!!
    LG aus dem Ruhrgebiet und alles Gute für 20 23 ❤️🍀❤️🍀
    Sendet euch Anja

    1. Liebe Anja, auch für dich ein glückliches und erfülltes Jahr 2023! Wir alle können so viel bewegen, wenn wir die richtigen Menschen an unserer Seite haben! Danke dir!

  2. Was für eine herzerwärmende Entwicklung . Ich liebe die verschmitzte Art , mit der deine Mama sich das Leben zurückgeholt hat . Wunderbar habt ihr sie zu ihrem Glück „ gezwungen“. ♥️♥️♥️

    1. Liebe Helene, ich danke dir sehr für deine Worte! Es ist wirklich ein Geschenk und kann uns zeigen, dass Entwicklung jederzeit möglich ist. Und mit Liebe geht sowieso alles!

      1. Liebe Susanne,
        Lebhaft und so nachvollziehbar erzählt. Danke Dir für das Teilen und ich glaube, viele haben etwa gleiche Erlebnisse gespiegelt bekommen.
        Liebevolle Umarmung
        Iris

        1. Liebe Iris, wenn man positive Veränderung bewirken und erleben darf, ist man doch beschenkt. Danke dir für dein Feedback! Ein frohes neues Jahr!

  3. Ich freue mich mit dir/euch. Und habe beim Lesen wohl ein dickes Grinsen im Gesicht gehabt.
    Danke für diese wunderbaren Einblicke, die soviel Lebensweisheit beinhalten – am praktischen Beispiel gezeigt.
    Ich wünsche euch allen von Herzen alles Liebe und Gute fürs neue Jahr.

    1. Liebe Sandra, deine Worte aus berufenem Munde freuen mich sehr. Ich schätze deine tiefen und offenen Ein- und Ausblicke auf das Leben ebenso sehr und daher freue ich mich gerade wie ein Schnitzel!

  4. Sehr erbauend liebe Susanne!
    Besonders der Blick deiner Mutter nach zweibeiniger männlicher Schönheit, der dir, ach Gott, als junges Mädchen die Schamröte im Gesicht aufziehen ließ! 🙂 Deine Eltern Nähe Viktualienmarkt umzusiedeln war wohl eine grandiose Idee und wie wunderbar, dass es fruchtet. Alles im Rahmen des Möglichen! Ich wünsche deinen Eltern eine angenehme Zeit dort! Respekt gebührt beiden! Keine einfache Situation! Liebe hilft immer! Ihr gebt sie! <3

    1. Auf den Punkt gebracht, liebe Tatyana: Liebe hilft immer! Es hat mir wieder mal gezeigt, was in scheinbar unveränderlichen Situationen noch möglich ist. Meine Eltern haben mich immer unterstützt. Es ist Zeit, etwas zurückzugeben. <3

  5. Wunderbar unterhaltsam, feinfühlig, lustig und spannend. Taugt mir:) Ich liebe Eure Posts (Deine und die von Wolf :)) aber jetzt werde ich auch ein Fan v deinem Blog. Liebe Grüße, Patricia

    1. Liebe Patricia, wir freuen uns sehr, dass wir dir Freude bereiten! Es ist nicht immer die tiefgründige Schwere, die uns voranbringt, sondern manchmal darf eine Botschaft, eine Information auch auf leichten Sohlen daherkommen. Und wie schön, dass ich dich als neuen Fan gewinnen darf!

  6. Tausend Dank für Deine und Eure herzerwärmende Weihnachtswundergeschichte, liebe Susanne – so schön zu lesen!! Und eine wertvolle Erinnerung daran, dass wir immer den Blick für die großen und kleinen Wunder des Lebens behalten und pflegen sollten…🤩

    WUNDER

    Wunder schenken nie, was wir erwarten –
    Wunder sind ein wahrgewordner Traum,
    In der Seele ungezähmtem Garten
    wachsend wie ein blütenschwerer Baum.

    Wunder, sie erblühen aus Vertrauen,
    wachsen tief hinein in alles Sein,
    und sie werden Welten neu erbauen,
    wandeln wir in Wahrheit allen Schein.

    Wunder sind des Höchsten Wink und Zeichen,
    und ihr Gruß aus ferner Ewigkeit,
    aus des Himmels heimatlichen Reichen,
    macht das Herz in uns zum Sprung bereit..

    (Andrea Gegner)

  7. Liebe Susanne,
    danke für den berührenden Einblick in deine Familie.
    „Wenn du noch eine Mutter hast…“ sang Heintje vor 1000 Jahren. Meine lebt seit 12 Jahren nicht mehr, so gern hätte ich sie in vielen Situationen bei mir. Genieß es. Wie viel uns die Mütter mitgeben, wissen wir oft erst im Rückblick. Ich wünsche dir und deiner Familie einen schönen und federleichten Start ins neue Jahr. Bestimmt wird es gut, nur anders…

    1. Liebe Karla, danke für deine offenen Worte! Ich mag es mir gar nicht vorstellen, wenn die Eltern einmal nicht mehr sind…umso mehr weiß ich unser „Weihnachtsgeschenk“ zu würdigen! Dir eine dicke Umarmung und ein gutes, gesundes und glückliches neues Jahr!

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